Was ist eigentlich Inklusion – oder: von Behinderten und Nichtbehinderten
Vorwort: es handelt sich hierbei um einen Artikel aus dem Archiv meines Privatblogs, der schon etwas älter ist. Zu manchen Punkten habe ich meine Sichtweise etwas verändert, aber insgesamt möchte ich diese Gedanken gerne noch einmal zur Diskussion stellen. Nachfolgend der Artikel im Wortlaut:
Es ist schon ein Kreuz mit der Inklusion. Eigentlich, das dürfte gesellschaftlicher Konsens sein, liegt sie in unser aller Interesse. Wären da nicht Verhaltensmuster, die in uns allen schlummern und uns immer wieder zum Verhängnis werden. Aber der Reihe nach: was ist Inklusion eigentlich? Was bedeutet der Begriff der Inklusion? Das klären wir hier – und noch mehr.
Begriffsklärung
Inklusion, so definiert Wikipedia den soziologischen Begriff, ist dann erreicht, “wenn jeder Mensch in seiner Individualität von der Gesellschaft akzeptiert wird und die Möglichkeit hat, in vollem Umfang an ihr teilzuhaben oder teilzunehmen. Unterschiede und Abweichungen werden im Rahmen der sozialen Inklusion bewusst wahrgenommen, aber in ihrer Bedeutung eingeschränkt oder gar aufgehoben. Ihr Vorhandensein wird von der Gesellschaft weder in Frage gestellt noch als Besonderheit gesehen. Das Recht zur Teilhabe wird sozialethisch begründet und bezieht sich auf sämtliche Lebensbereiche, in denen sich alle barrierefrei bewegen können sollen.” (http://de.wikipedia.org/wiki/Inklusion_(Soziologie))
Im Klartext bedeutet das: völlig egal, ob du dunkle oder helle Hautfarbe hast, Nike Air oder Asiletten trägst, gut zu Fuß bist oder im Rollstuhl sitzt, niemand interessiert sich für solche Unterschiede und wertet einen Menschen deshalb auf oder ab. Eigentlich ein angenehmer Gedanke: Inklusion bedeutet letztlich eine Gesellschaft, in der jeder gleich viel wert ist – ob behindert oder nichtbehindert, ob reich oder arm, ob schwarz oder weiß: die Liste ließe sich beliebig fortführen.
Problematik
So betrachtet, wird es schwierig, den Begriff von dem Vorwurf der Sozialromantik abzugrenzen. Auf kurze Sicht ist Inklusion als solche nicht zu bewerkstelligen. Sie sollte, ja muss aber ein konstantes Ziel sein. Teilweise stehen sich dabei aber sämtliche Gruppen selbst im Weg – aus rein menschlichen Reflexen heraus.
Das Problem: Wir alle kategorisieren gerne. Unser Gehirn ist darauf trainiert, in Kategorien zu denken. Ist ja soweit auch noch in Ordnung, wir dürfen im Inklusionsbegriff ja durchaus auch Unterschiede wahrnehmen. Also nehmen wir uns einmal das Beispiel Behinderte vor. Sie zu inkludieren ist ein konsensfähiges Gesellschaftsziel. Behinderungen können vielfältig sein: Gehbehinderungen in unterschiedlichen Graden, massive Einschränkungen oder Verlust des Seh- oder Hörvermögens, psychische Erkrankungen – mal ehrlich, was ist daran eigentlich “unnormal”? Früher oder später ereilt das die meisten von uns. Ungewöhnlich ist höchstens, wenn es in frühen Lebensjahren kommt. Aber zurück zum Beispiel.
“Und ganz schnell sitzt man in der political correctness-Falle”
Wir wollen also Behinderte inkludieren, indem wir Barrierefreiheit schaffen – ein wichtiges Etappenziel. Zudem wollen wir mit Aufklärung und den Zielen der Behindertenrechtskonvention (CRPD) dafür sorgen, dass auch mentale Barrieren im Kopf von “derzeit Nichtbehinderten” (ihr merkt schon, mit political correctness kommen wir hier nicht weit) fallen und wir Behinderte als Teil der Gesellschaft selbstverständlich wahrnehmen. Dann kommt aber nicht selten die Sprache ins Spiel – und mit ihr die Missverständnisse. Und ganz schnell sitzt man in der political correctness-Falle.
Mancher, mit dem es “derzeit Nichtbehinderte” eigentlich gut meinen, bekommt eine Formulierung oder einen bestimmten Habitus in den falschen Hals – und ergeht sich anschließend in Metadiskussionen um Begrifflichkeiten. Das mag uns kleinkariert vorkommen, für jenen, der aus Empfänger-Sicht (wir erinnern uns, das Sender-Empfänger-Prinzip der Kommunikation) hier aber in irgendeiner Form herabgewürdigt wurde, fühlt sich wiederum zurecht angegriffen. Es folgen Diskussionen über Euphemismen und ihre Zulässigkeit, es folgen langatmige Debatten über korrekte Formulierungen. Die Diskussionen sind auf der einen Seite notwendig: wir alle nutzen Floskeln bisweilen unreflektiert, weil sie eben so im Sprachgebrauch verankert sind. Solche Formulierungen müssen irgendwann auf den Prüfstand. Auf der anderen Seiten muss die Diskussion aber irgendwann auch ein Ende mit einem Konsens finden. Und das auf beiden Seiten.
Inklusion? Exklusion? Perspektivenwechsel!
Missverständnisse sind alltäglich und menschlich – völlig unabhängig, welcher Gruppe man angehört. Raul Krauthausen beispielsweise sammelt neuerdings in einer eigens eingerichteten Gruppe bei Facebook Zitate, die Rollstuhlfahrer besonders häufig hören. Bei Diskussionen über diese Gruppe fiel auf: tatsächlich finden sich darin zahllose Stereotypen, die beinahe jeder Rollstuhlfahrer bereits kannte. Auf der anderen Seite aber zeigten sich Nicht-Rollstuhlfahrer verunsichert, denn manche Zitate darin zeugten eher von (gut gemeintem) Interesse und dem Versuch, Brücken zu schlagen. Viele hingegen zeugten einfach nur von Taktlosigkeit und Unverfrorenheit – und so macht es durchaus Sinn, eine solche Sammlung anzulegen, auch wenn sie eben dem Begriff der Inklusion widerspricht (damit wir das auch geklärt hätten…). Nützlich wird es, wenn das Ganze irgendwann einmal gebündelt und augenzwinkernd erscheint, um manchem Nicht-Rollstuhlfahrer einen Spiegel vorzuhalten. Dazu ist es aber nötig, dass sich beide “Seiten” nicht allzu ernst nehmen und über sich selbst lachen können. Und hey: ein Nicht-Rollstuhlfahrer kann sich unter mehreren Rollstuhlfahrern auch schnell exkludiert fühlen ;-)
Inklusion bedeutet letztlich insbesondere ein gegenseitiges Aufeinanderzugehen.
Es ist unmöglich, Inklusion zu verwirklichen, wenn sich eine Gruppe selbst nicht inklusiv betrachtet – das ist der Knackpunkt daran. Wenn ein Behinderter beispielsweise anregt, dass bei Dreharbeiten für Filme mit Behinderten das Team für ein authentischeres Resultat mit mehr Behinderten besetzt wird – dann ist das schon keine Inklusion mehr, sondern direkte Exklusion. Quotenregelungen stellen ebenfalls einen Widerspruch zur Inklusion dar: solange es Quoten gibt, nach denen bestimmte Menschengruppen bevorzugt behandelt werden, ist keine Inklusion erreicht. Aber: sie können durchaus als Brückenlösung eingesetzt werden, um Inklusion langfristig zu erzielen.
Zwischendurch hilft ein Perspektivenwechsel, die Dinge ganz anders zu sehen. Und ohne Dialog werden wir keine Inklusion erreichen. Aber: wir müssen gemeinsam reden. Und dann handeln. Also: diskutierst du noch, oder inkludierst du schon?
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