Das Kreuz mit dem Kreuz: Rollstuhlgerechte Wahllokale
Gerade sind bei uns im Haus die Wahlbenachrichtigungen zur Bundestagswahl 2013 ins Haus geflattert. Am 22. September 2013 dürfen alle volljährigen deutschen Staatsbürger ihre Kreuzchen setzen und von ihrem Mitbestimmungsrecht Gebrauch machen. Doch ganz so einfach ist es nicht – denn bei Weitem nicht jedes Wahllokal ist mit dem Rollstuhl erreichbar. Deshalb setzt die Aktion Mensch nun ein Zeichen und startet eine Testtour.
Zu unseren Zeiten in Hamburg wussten wir: unser Wahllokal ist nicht rollstuhlzugänglich. Es handelte sich um eine alte Grundschule, die wie 1.099 der insgesamt 1.276 Hamburger Wahllokale als nicht oder nur eingeschränkt barrierefrei ausgewiesen werden – lediglich 177 rollstuhlgerechte Wahllokale kann der Hamburger Wahlleiter vorweisen, was gerade einmal knappe 14 Prozent ausmacht. Eingeschränkt barrierefrei bedeutet nach Recherchen von Elbmelancholie.de, dass einige Vorgaben wie beispielsweise automatische Türöffner nicht erfüllt seien, die meisten dieser Wahllokale aber relativ unkompliziert dennoch rollstuhlzugänglich seien.
Die wenigsten Rollstuhlfahrer werden sich allerdings auf so eine vage Auskunft verlassen und ihr Glück versuchen. Welche Möglichkeiten bleiben also, um dennoch an der Bundestagswahl teilzunehmen, auch wenn das Wahllokal nicht rollstuhlgerecht ist? Hierfür gibt es genau zwei Workarounds, die das Gesetz vorgesehen hat:
- Briefwahl. Interessanterweise entfiel in der jüngsten Wahlbenachrichtigung die bislang obligatorische eidesstattliche Versicherung, dass der Wähler aus gesundheitlichen Gründen oder anderen wichtigen Gründen nicht in der Lage sei, das Wahllokal zum vorgegebenen Termin aufzusuchen. In der Berliner Wahlbenachrichtigung findet sich zumindest keine Einschränkung mehr, um Briefwahlunterlagen anzufordern oder per Vollmacht abholen zu lassen. Ausfüllen, ab in den Briefkasten, und die Wahlunterlagen kommen per Post – was den angenehmen Vorteil bietet, dass man etwas mehr Zeit hat, sich mit den Unterlagen vertraut zu machen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Briefwahl auch durchaus ein paar Nachteile birgt – nämlich einerseits zwei Gänge zum Briefkasten oder zum Postamt, andererseits auch durchaus eine Manipulationsgefahr durch Anwesende beim Ausfüllen, wenn Briefwahlunterlagen durch eine Hilfsperson ausgefüllt werden.
- Das Aufsuchen eines anderen Wahllokals. Der Wahlbenachrichtigung liegt ein Antragsformular bei, um die Wahlberechtigung auf ein anderes Wahllokal zu verlegen. Der Haken hieran: man muss erst einmal ein rollstuhlgerechtes Wahllokal finden. Peinlich dabei für Berlin: die Stadt Halle hat eine öffentliche Liste mit rollstuhlgerechten Wahllokalen erstellt – für Berlin sucht man so etwas zumindest mit üblichen Suchmaschinenanfragen vergebens. Hinzu kommt der unter Umständen erhöhte Anreiseaufwand.
Ein wünschenswertes Ziel wäre es demnach, wenn wirklich alle Wahllokale barrierefrei erreichbar wären – nicht nur rollstuhlgerecht. Mit einer einfachen Anlegerampe ist es in der Tat nicht getan: ein Behindertenparkplatz sowie eine rollstuhlgeeignete ÖPNV-Anbindung sind ebenso erforderlich wie Türöffner oder zumindest Kommunikationsmittel, um Assistenz zum Betreten des Wahllokals zu erhalten, für Sehgeschädigte sind Leitsysteme und Schablonen zum Ausfüllen ebenfalls notwendig.
Von Inklusion scheinen wir also ausgerechnet an dieser, für die Demokratie so elementaren Stelle, noch ein weites Stück entfernt zu sein, auch wenn beispielsweise der Berliner Senat im Vorfeld händeringend in einem öffentlichen Aufruf nach barrierefreien Wahllokalen gesucht hat. Die Aktion Mensch ist derzeit mit Raul Krauthausen, Petra Groß, Michael Wahl und Guildo Horn als Busfahrer auf Tour quer durch Deutschland, um Wahllokale auf ihre Barrierefreiheit zu testen und in Gespräch mit Politikern auf diese Notwendigkeit hinzuweisen. Und es bleibt zu hoffen, dass Deutschland die vorhandenen Ressourcen nutzt, und zur Bundestagswahl 2017 endlich sehr viel mehr Menschen so selbstverständlich von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können, wie es für gesunde Menschen der Fall ist.
Unser Wahllokal in Berlin ist jedenfalls laut Wahlbenachrichtigung rollstuhlgerecht, und zum ersten Mal seit vielen Jahren werden wir so wieder am Sonntagnachmittag zu einem Spaziergang aufbrechen, um unsere Kreuzchen zu verteilen. Und dabei die Parteien zu belohnen, die sich aktiv für Inklusion einsetzen – und jene abzustrafen, deren Politiker das Wahlrecht mit den Worten “Es ist nicht plausibel, warum ein Mensch, der nicht mal selbstständig eine Zeitung kaufen kann, eine Wahlentscheidung treffen soll” (Günter Krings, CDU) in ihrer ganz eigenen Sichtweise betrachten.
Wer sich eingehender mit der Thematik befassen möchte: dieser Beitrag nimmt an der aktuellen Blogparade “Wählen mit Behinderung” der Aktion Mensch teil. Hier finden sich in den kommenden Wochen noch zahlreiche weitere Beiträge, teils auch unter völlig anderen Blickwinkeln!
Welche Erfahrungen habt ihr gemacht? Geht ihr überhaupt noch wählen? Wenn ja, nutzt ihr von vornherein Briefwahl? Oder gehört ihr zum offenbar kleinen Kreis der Auserwählten mit einem barrierefreien Wahllokal?
Foto: Dennis Skley/flickr.com under cc by-nd 2.0
Hmm. Hab ich so noch nie betrachtet. Eigentlich ist es eine Schweinerei, daß Behinderte so ausgrenzt werden. Jeder müßte doch Wählen gehen dürfen!
Man kann alles übertreiben. Für mich ist entscheidend die Teilnahme an der Wahl. Dies wird mir durch die Möglichkeit der Briefwahl erleichtert. Wo ist das Problem?
Ja, das mag sicher mancher so sehen, und das ist auch völlig in Ordnung. Das mittelfristige Ziel sollte aber doch eine Gesellschaft sein, in der es keinen ständigen “Plan B” für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen geben muss, sondern in der sie völlig selbstverständlich teilhaben können. In anderen Ländern wie England ist so etwas gang und gäbe, hier nicht – und genau darin liegt das Problem.
Sicher: du kannst wählen. Aber du kannst nicht ebenso selbstverständlich wie jeder andere Mensch auch dein Wahllokal aufsuchen. Und daran wollen wir arbeiten.
Diese Auffassung teile ich. Mein Kommentar bezog sich Explizit auf die Teilnahme an Wahlen. Übrigens ist die Briefwahlvoraussetzung nicht mehr an Krankheit und Verhinderung gekoppelt, sondern gilt für jeden.